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Drei Zimmer, Küche, Job

In Berlin erproben Arbeitgeber ein neues Konzept gegen den Fachkräftemangel: Sie bauen gemeinsam Wohnungen

FOCUS 062021 MARCEL WOLLSCHEID

Auf einem Grünstreifen im Nordwesten von Berlin, ganz in der Nähe des Havelufers, will Peter Diedrich, 61, seine Vision verwirklichen. Noch sieht man auf dem Gelände nur ein paar Büsche und Birken. Doch geht es nach Diedrich, wird sich das bald ändern. Bis 2022 sollen hier vier Wohngebäude entstehen. 140 Familien könnten darin eine neue Heimat finden. Das Raumkonzept der „Havelschanze“ ist modern und energieeffizient, geplant sind zudem eine eigene Kita und ein Gemeinschaftscafé. Diedrich nennt es einen „Ort des Miteinanders“. Für den Rechtsanwalt, Notar und Vorsitzenden des Verbandes „Job & Wohnen“ hat das Bauvorhaben aber noch aus einem anderen Grund eine besondere Bedeutung. Es ist die erste Bewährungsprobe für ein alternatives Wohnungsbaumodell, das er und seine Mitstreiter in den nächsten Jahren im ganzen Land etablieren wollen. Im Kern geht es darum, dass mittelständische Unternehmen selbst Wohnungen für ihre Mitarbeiter bauen – und damit den Fachkräftemangel überwinden.

Genau so ist es in Berlin geplant. Hinter dem Bauprojekt steht weder ein großer Immobilienkonzern noch eine städtische Gesellschaft, sondern ein Zusammenschluss von sieben kleinen und mittleren Firmen, darunter ein Pflegedienst, eine Versicherung und ein Ingenieurbüro. Sie stammen aus verschiedenen Branchen, doch sie verbindet ein Problem.

„Egal mit wem wir sprechen, alle sagen uns: Wir kriegen keine Leute“, berichtet Diedrich. Einer der Gründe ist, dass Wohnraum gerade in den Städten immer knapper und teurer wird, was potenzielle Bewerber abschreckt. In der Vergangenheit konnten sich in der Regel nur Großkonzerne wie Siemens oder Thyssenkrupp den Bau von Mitarbeiterwohnungen leisten. Um das zu ändern, hat Diedrich ein Genossenschaftsmodell konzipiert: Mitglieder erwerben Anteile, pachten gemeinsam ein Grundstück vom Land und teilen sich schließlich die Ausgaben für Bau und Unterhalt. Die Kosten sinken dadurch erheblich. Für eine Einzimmerwohnung müssen die Firmen in Berlin einmalig etwa 17 500 Euro Eigenanteil aufwenden. Der Betrag wird der Genossenschaft als Darlehen übertragen. Für einen mittelständischen Betrieb ist das zwar eine beträchtliche, aber trotzdem realisierbare Investition, zumal zusätzliche Fördermittel des Landes in Aussicht stehen.

Auch für die Mieter bringt das Projekt Vorteile: Eine Einzimmerwohnung an der Havelschanze soll 6,50 Euro pro Quadratmeter (kalt) bei den geförderten Wohnungen kosten. Im frei finanzierten Bereich fallen ab 8,80 Euro pro Quadratmeter (kalt) an. Das liegt deutlich unter den ortsüblichen Mietpreisen für Neubauten in der Hauptstadt.

Diedrich ist überzeugt, dass letztlich alle profitieren: die Arbeitnehmer, die eine bezahlbare Wohnung finden. Die Firmen, die Fachkräfte langfristig an sich binden können. Und auch die Städte, die im Kampf gegen die Wohnungsnot vorankommen. „Wir schaffen eine Winwin-win-Situation“, sagt er.

Das Pilotprojekt könnte bundesweit zum Vorbild taugen. Diedrich ist bereits mit 14 weiteren interessierten Städten im Gespräch, darunter München, Potsdam, Hamburg und Würzburg. Zudem unterstützt der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) mit seinen 900 000 Mitgliedern die Initiative. Es deutet alles darauf hin, dass 2021 der große Durchbruch gelingt.



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